kennen auch die vielen anderen" Warum Gießen trotz Polizei-Dauereinsätzen noch mehr Flüchtlinge aufnehmen will

FOCUS-Online-Redakteurin Anna Schmid

Donnerstag, 23.12.2021, 12:58

Gießen machte in den vergangenen Monaten deutschlandweit Negativschlagzeilen mit seiner Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Die Zahl der Polizeieinsätze hat sich dort immer weiter erhöht. Trotzdem will die Stadt nun noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Was hinter dem Plan steckt. imago images/brennweiteffm
entrale Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen.

Klaus-Dieter Grothe kennt sich mit Flüchtlingen aus. Der 66-Jährige ist Psychotherapeut, viele Jahre lang arbeitete er mit Kindern und Jugendlichen, die mit den Folgen von Flucht und Migration zu kämpfen hatten. Grothes Praxis befand sich in der Nähe von Gießen, einer Großstadt mit "langer Tradition der Flüchtlingsaufnahme", wie er erklärt. Gerne spricht er über das "bunte Gießen", die vielen verschiedenen Menschen, die schon seit Jahren zum Straßenbild gehören.

"Wir haben hier eine sehr tolerante, wohlwollende Haltung gegenüber Geflüchteten. In der Erstaufnahmeeinrichtung (EAEH) in der Rödgener Straße leben derzeit rund 2700 Menschen", sagt der 66-Jährige. Die Erstaufnahmeeinrichtung ist es allerdings auch, die Gießen in den vergangenen Monaten viele negative Schlagzeilen beschert hat.

Flüchtlinge in Gießen: Zahl der Polizeieinsätze an der EAEH erhöhte sich massiv

Von 2018 bis 2020 hat sich die Zahl der Polizeieinsätze dort von 330 auf 905 erhöht. In diesem Jahr mussten die Beamten bereits rund 1000 Mal ausrücken. Die Auflistung umfasst sogenannte Ad-hoc-Alarmierungen, nicht jedoch planbare Einsätze wie Abschiebungen oder Ermittlungsgesuche.

Ein Geflücheter nannte das Erstaufnahmezentrum gegenüber Grothe einmal ein "Paradies für Hemmungslose", wie er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in einem Interview erklärte. Umso mehr erstaunt der Antrag, den die Gießener Grünen, die SPD und die Linke im September gestellt haben und den Grothe unterstützt. Denn darin erklären sich die Unterzeichner bereit, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen als ohnehin schon. Konkret geht es um schutzbedürftige Menschen aus Afghanistan.

Grothe selbst sprach vom "Paradies für Hemmungslose"

Die Politiker fordern den Magistrat, also die Verwaltungsbehörde der Stadt Gießen, in ihrem Schreiben dazu auf, "gegenüber Bundes- und Landesregierung darzustellen, dass die Stadt Gießen bereit ist, zusätzlich Menschen, die deshalb aus Afghanistan fliehen, aufzunehmen und alle Kräfte daransetzen wird, diesen Menschen ein sicheres Umfeld zu bieten".

Außerdem appellieren sie "an Bundes- und Landesregierung, alles dafür zu tun, dass so viele Menschen wie möglich den Gefahren für ihr Leben und ihre Unversehrtheit sowie für ein freiheitliches Zusammenleben durch die Herrschaft der Taliban entkommen können". Stadt und Landkreis gehören dem Bündnis "Städte Sicherer Häfen" an, das immer wieder seine Bereitschaft formuliert, Flüchtlinge aufzunehmen.

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würde gern mehr afghanische Flüchtlinge aufnehmen.

20 afghanische Ortskräfte und ihre Familienangehörigen hat der Landkreis Gießen seit Jahresbeginn bereits bei sich einquartiert, berichtet der "Spiegel" Ende November. Sie wurden der Region über den sogenannten "Königsteiner Schlüssel" zugewiesen. Der Landkreis selbst wollte sich auch nach mehreren Anfragen von FOCUS Online nicht genauer zur Flüchtlingssituation vor Ort äußern.

Kreistag und Stadtverordnetenversammlung haben den Antrag von Grünen, Linken und SPD bereits durchgewunken. Weitere Flüchtlinge können Landkreis und Stadt nun aber nur nach Gießen holen, wenn das Bundesinnenministerium zustimmt.

"Drogendealer haben sich als Flüchtlinge ausgegeben"

Warum Gießen trotz der teils prekären Lage in der Erstaufnahmeeinrichtung weitere Flüchtlinge beherbergen will, offenbart ein genauerer Blick auf das, was sich dort in den vergangenen Monaten abgespielt hat. Wie Grothe berichtet, war es ein ganz bestimmter Teil der Bewohner, der seit dem vergangenen Winter in der Einrichtung für Probleme sorgte. "Alles drehte sich um eine Gruppe von etwa 100 Kriminellen, unter denen auch die anderen Bewohner zu leiden hatten."

Einige Geflüchtete, die in der Unterkunft leben, erklärten dem 66-Jährigen, es handle sich um Drogendealer und Kleinkriminelle aus Frankreich und Belgien. "Weil deren Markt durch Ausgangssperren und Lockdowns zusammengebrochen ist, sind viele von ihnen nach Deutschland weitergezogen. Die Drogendealer haben sich als Flüchtlinge ausgegeben und Unruhe ins Lager gebracht", berichtet Grothe. Die Rückführung solcher Unruhestifter in ihre Heimatländer gestalte sich oft schwierig.

Polizei musste ständig in die Gießener Unterkunft ausrücken

Erpressung, Prügeleien oder Diebstahl - die Polizei musste ständig in die Gießener Unterkunft, in der eigentlich Schutzbedürftige leben sollen, ausrücken. So oft, dass sich fünf Beamte im April dieses Jahres sogar beschwerten. Rund dreimal täglich seien sie zur Flüchtlingsunterkunft gerufen worden, monierten sie, auch Grothe spricht von "regelmäßigen Einsätzen".

Dass sich die Zahl der Einsätze jedoch bereits seit 2018 kontinuierlich erhöht hat, führt man bei der Polizei auch auf die Menge an Menschen zurück, die in der Einrichtung lebt. Durch Inkrafttreten des "Geordnete-Rückkehr-Gesetzes" werden die Geflüchteten nicht mehr nach wenigen Wochen in die Kommunen verlegt. Viele Familien bleiben bis zu sechs Monate, Alleinreisende bis zu 18 Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung.

"Eine weitere Ursache könnte die Pandemie sein", heißt es in dem schriftlichen Statement des Polizeipräsidiums Hessen. Dort betont man aber auch: "Wir müssen dabei unterscheiden. Es gibt dort Einsätze und angezeigte Straftaten. Nicht jeder Einsatz hat eine Strafanzeige zur Folge."

Gießen hat viele positive Erfahrungen mit Flüchtlingen gesammelt

Obwohl die Schwierigkeiten in der Erstaufnahmeeinrichtung die Berichterstattung der vergangenen Monate geprägt haben, hat Gießen insgesamt viele positive Erfahrungen mit Flüchtlingen gesammelt. "Wir kennen auch die vielen anderen, die sich anständig benehmen", sagt Grothe. Weil sie Teil der Gießener Bevölkerung sind, sprechen sie auch ganz offen über Dinge, die schlecht laufen, so der Flüchtlingshelfer.

Die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung gibt es schon sehr lange. 1946 wurde das Zentrum gegründet, war Anlaufstelle für Kriegsvertriebene und DDR-Flüchtlinge. Nach dem Mauerfall kamen dort unter anderem Menschen unter, die aus dem ehemaligen Jugoslawien geflohen waren. Der Standort Gießen gilt heute laut Hessischem Flüchtlingsrat als größte Flüchtlingsunterkunft in ganz Deutschland.

"Viele Menschen, beispielsweise Syrer, Afghanen, Bosnier, Kurden oder Russlanddeutsche haben sich über die Jahre hier angesiedelt", sagt Grothe, der seit 30 Jahren im Vorstand der Flüchtlingshilfe Mittelhessen sitzt. Aus seiner Zeit als Psychotherapeut kennt er viele Beispiele für das, was gemeinhin als gelungene Integration gilt.

"Ich bin zum Beispiel eng befreundet mit einem jungen Mann, den ich kennenlernte, als er gerade einmal 14 Jahre alt war. Er kommt aus Afghanistan, zog dann mit seiner Familie als Kleinkind in den Iran, in der Hoffnung, dass sich in seiner Heimat noch einmal etwas ändert", berichtet Grothe. Schließlich hätten er und seine Angehörigen den Gedanken verworfen und seien nach Gießen geflohen. "Der Junge von damals macht jetzt seine Schreinermeisterprüfung."

"Wir wollen von Bund und Land endlich was hören"

Andere Afghanen haben schon eine Ausbildung im Gepäck, wenn sie Gießen erreichen. "Sie können gerade deshalb ein Gewinn für die deutsche Gesellschaft sein", sagt Grothe. Er erinnert sich an Ärzte, Wissenschaftler, Handwerker. Sie alle kamen in den vergangenen Jahrzehnten nach Gießen, einige blieben.

Ob Gießen weitere Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen darf, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar. Wie die "Gießener Allgemeine" berichtet, beklagte die ehemalige Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz (SPD) bereits im Oktober, dass der Bund mauere. "Wir haben viele gute Erfahrungen gemacht, zum Beispiel mit unserem Schwerpunkt auf unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Und wir wollen von Bund und Land endlich was hören", sagte sie damals.

Der Antrag, den Grüne, SPD und Linke gestellt haben, wurde am 16. Dezember in der Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Das ist, so sagt es Grothe, aber eher "ein symbolischer Akt". Es bleibt die Hoffnung, dass "die Bundesregierung in unserem Sinn humanitär tätig wird".


Quelle: focus.de